Bedürfnisorientiert fremdbetreut – geht das?
Als mein Löwchen ungefähr ein Jahr alt war, wurde ich gefragt: Wie geht das eigentlich zusammen? Du lebst bedürfnisorientiert mit deiner Tochter und dennoch bringst du sie zu einer Tagesmutter, seit sie 6 Monate alt ist. Widerspricht sich das nicht?
Hier scheiden sich tatsächlich die mütterlichen und wissenschaftlichen Geister und am Ende ist es wie das meiste: Eine Glaubensfrage. Aber lass mich von vorne beginnen.
Die zwei Stimmen im Kopf einer Frau
Klar, die einen gehen voll und ganz im Mutter-Sein auf, und die anderen vermissen es bald nach der Geburt auch wieder in den bisherigen Job einzusteigen. Ich habe schon alles gehört, von den Frauen, die eine erfolgreiche Karriere (mehr oder weniger freiwillig) an den Nagel gehängt haben, um künftig ausschließlich für die Kinder da zu sein, bis zu einer Frau, die vom Tag der Geburt über den geplanten Kaiserschnitt bis zum sofortigen Wiedereinstieg in die Führungsposition sofort nach dem Mutterschutz alles geplant und nichts dem Zufall überlassen hat (wenn das so überhaupt möglich ist), um gleich wieder da einzusteigen, wo sie vor der Geburt aufgehört hat.
In den meisten Müttern, so möchte ich behaupten, schlagen beide Herzen. Das Mutterherz empfindet den Drang, rund um die Uhr mit Augen und Ohren beim Baby zu sein, die Bindung zu pflegen, Geborgenheit zu geben und dem Baby jedes Bedürfnis von den Augen abzulesen. Und dann gibt es noch das Ich, das losgelöst vom Baby existiert und seine eigene Stimme hat. Dieses Ich der Frau hat Hobbies, möchte sich beruflich verwirklichen oder auch einfach mal alleine sein. Beide Seiten sind in der Regel vorhanden und haben ihre Berechtigung – und ihre Wichtigkeit!
Manche haben keine Wahl…
In unserer heutigen Welt verspüren wir außerdem oft das Gefühl, wieder früh in den Job einsteigen zu müssen. Damit wir thematisch drin bleiben, damit wir den Lebensunterhalt verdienen, damit wir nicht als Mutter zum Außenseiter werden, damit wir den Anschluss nicht verlieren. Und tatsächlich werden Mütter noch heute diskriminiert (dieses Thema verdient einen eigenen Artikel)!
Stimmt, das wenigste müssen wir wirklich. Dennoch drängt uns die gesellschaftliche Situation, bald wieder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen – und was dann? Was, wenn keine alternativen Arbeitsmodelle zur Verfügung stehen? Was, wenn ich gerne arbeiten möchte?
Die Tagesmutter oder Verwandtschaft als Alternative zur Kita
Für mich persönlich fühlte sich der Gedanke, mein Baby unter vielen anderen Babys und zu mehreren ErzieherInnen in eine Krabbelgruppe zu bringen, nicht richtig an. Ich wollte mein Baby dort wissen, wo auf Signale und Kommunikation meines Kindes adäquat eingegangen werden kann, wo entspannte familiäre Bedingungen herrschen.
Die Betreuung von Personen aus der eigenen Familie ist natürlich eine Alternative, allerdings nicht für alle Familien machbar, wenn die Großeltern weit weg wohnen, oder die Verwandtschaft selbst arbeitet oder das Kind nicht betreuen möchte (so eine Volllzeit-Betreuung ist nicht zu unterschätzen). Und auch wenn es geht, sollte einem klar sein: Es entstehen möglicherweise Erwartungshaltungen bzgl. der Verfügbarkeit und des „Erziehungsstils“ sowie der Dankbarkeit auf der anderen Seite, sodass dies schnell die Beziehung zur betreuenden verwandten Person belasten kann. Abgesehen davon kann dies aber eine gute Lösung sein.
Vorzüge einer Betreuung durch eine liebevolle Tagesmutter/-vater
Es hat durchaus Vorteile, wenn dein Kind relativ früh von einer Tagesperson betreut wird:
1. Mehr Ruhe für deine Zeit mit Baby
Du kannst deine Angelegenheiten (Schreibkram, Behördenbesuche, Arbeit) in Ruhe erledigen oder auch mal einfach nur die Füße hochlegen. Wenn du dein Baby dann wieder bei dir hast, kannst du dich voll und ganz auf ihn/sie einlassen und hast alles andere bereits erledigt. Ich habe damals manchmal sehnsüchtig den Mittagsschlaf meiner Tochter erwartet, da ich noch dringend dieses oder jenes erledigen musste. Ein schreckliches Gefühl, die Wachzeit meiner Tochter teilweise nicht genießen zu können, weil ich Druck von außen hatte und keine Möglichkeit, länger konzentriert zu arbeiten (natürlich kann man auch mit Baby vieles erledigen, mehr dazu hier). Seit sie an einigen Tagen bei der Tagesmutter war, wurde die sonstige Zeit mit meiner Tochter absolute Qualitätszeit!
2. Dein Baby lernt eine weitere Bezugsperson kennen, bevor es „fremdelt“
In den ersten Wochen und Monaten benötigt das Baby die Mutter sehr oft und sehr nah, die Entwicklungsschübe kommen Schlag auf Schlag, und wenn das Baby nach der Mutter weint, ist das für ein Kind in dem Alter eine unmittelbare Reaktion, da hilft noch kein Erklären oder Bespielen.
Mit dem langsamen mobiler werden möchte das Kind aber auch die Welt entdecken und wird aufgeschlossener und „wacher“. Gleichzeitig hat es mit 6 Monaten noch nicht die Phase durchlebt, in der es Kategorien bildet und „fremde“ Menschen von bekannten Gesichtern unterscheidet und bewertet und Abstände zur Mutter dramatisch wahrnimmt (siehe auch „Oje, ich wachse!“ von Plooij und van de Rijt). Somit ist das Fenster noch weit offen für andere enge und stabile Bindungen.
Meine Tochter hat die Tagesmutter und ihre Tagesgeschwister lieb gewonnen wie Familie. Selten hat sie am Ende der Betreuungszeit richtig Sehnsucht gezeigt, es ging ihr ausgesprochen gut, und meist freute sie sich sehr, wenn wir bei der Tagesmutter ankamen, und wollte sofort in ihre Arme zur Begrüßung. Geweint hat sie in einem ganzen Jahr Tagesmutter-Betreuung nie – bis zu ihrem ersten Geburtstag, da gab es 2 große Sehnsuchtstage, an denen ich mein Kind natürlich sofort abgeholt und ohne Ende gekuschelt habe.
3. Wenn du erst später zu arbeiten anfängst, habt ihr eine entspannte Eingewöhnungszeit
Viele Mütter beginnen erst mit Ende des ersten Lebensjahres des Kindes oder noch später zu arbeiten. Wenn man das Kind schon ein paar Monate vorher zur Tagesmutter bringt, hat man eine super entspannte Eingewöhnungszeit und beide haben viele Wochen oder Monate, um sich auf die Situation einzustellen und ggf. auch mal einen Schritt zurück zu machen, wenn die Sehnsucht groß ist, oder die Betreuungsperson zu wechseln, wenn es Probleme gibt. Nichts ist schlimmer, als plötzlich den Druck zu haben, das jetzt alles klappen muss.
Aber denk dran: Im ersten Lebensjahr wird die Tagesmutter finanziell von der Stadt nur dann (und nur in bestimmten Bundesländern) bezuschusst, wenn du auch eine Beschäftigung nachweisen kannst. Du brauchst also einen Minijob, oder du kannst eine kleine Selbstständigkeit nachweisen, oder wolltest du nicht lange schon deine Masterarbeit beenden?
4. Auch du gewöhnst dich besser!
Wenn man zwei oder drei Jahre mit dem Kind eng an eng verbracht hat, ist es schwer, von jetzt auf gleich für 40 Stunden die Woche Abschied zu nehmen vom Kind und es in „fremde“ Hände zu geben. Oft fällt es den Eltern genau so schwer wie dem Kind und ihre Ängste und ihr schlechtes Gewissen wirkt sich zudem schlecht auf das Gefühl des Kindes zur Betreuungssituation aus.
Je mehr du als Mutter oder Vater hinter der Betreuung stehst und entspannt bist, umso entspannter kann auch dein Kind mit der Situation umgehen. Also plane eine lange Eingewöhnung ein, „übe“ früh mit deinem Kind, es liebevollen Händen anzuvertrauen, und suche dir dafür Tageseltern, zu denen die Chemie stimmt! Dann fühlst du dich wohl und das ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass auch dein Kind sich bei den Tageseltern wohl fühlt. Es ist eine gute Übung dafür, die natürliche Mutter-Kind-Symbiose zu Gunsten der kindlichen Autonomie LIEBEvoll und entspannt zu lösen.
5. Dein Kind hat eine artgerechte Umgebung
Wenn du auch in einer typisch deutschen Familien lebst (Mutter-Vater-Kind, restliche Familie lebt fern ab oder es gibt wenig Kontakt), ist das für dich und dein Kind im Grunde nicht artgerecht. Wir sind darauf ausgelegt, nicht als isolierte Kleinfamilie sondern in der Sippe zu leben. Historisch gesehen gab es nie eine 3-Jahres-Auszeit für Mütter, und undenkbar ist das auch in anderen Kulturen, in der man in der Gemeinschaft Hand in Hand für sein (Über-)Leben arbeiten muss.
Kinder lernen von anderen Kindern und brauchen den sozialen Austausch, dürsten danach (Zweitkinder und solche, die unter vielen Kindern aufwachsen, erlernen Fähigkeiten oft schneller, haben auch in Sachen trocken bleiben „coole“ Vorbilder und damit einen Ansporn und eine Lernhilfe durch abgucken). Eltern bedürfen der Unterstützung der anderen Erwachsenen, das merkt fast jede Mutter, die einmal mit Baby alleine zu Hause und krank war.
Meine Tochter liebt ihre Tagesgeschwister. Wenn sie zu Hause nur mit mir war, freute sie sich – aber dann fehlten ihr auch ihre kleinen Spielgefährten. Kleine Kinder halten sich an gleichaltrige oder größere. Keine Mutter kann eine beste Freundin ersetzen. Die traute Kleinfamilie kann sehr trist sein, wenn man in ihr gefangen ist. Tagesgeschwister sind ein Segen für ein (noch) Einzelkind.
Natürlich kannst du auch zu Eltern-Kind-Treffen gehen oder viele Freunde mit Kindern treffen. Oder ihr geht auf Reisen und lernt dort andere Kinder und Familien kennen. Auch das kann für das Kind sehr erfüllend sein.
Und wie passt das jetzt mit einer bedürfnisorientierten Einstellung zusammen?
Was heißt denn „bedürfnisorientiert“? Es bedeutet jedenfalls nicht, die leibliche Mutter muss während der Zeit x rund um die Uhr für das Kind verfügbar oder in unmittelbarer Nähe sein. Es bedeutet, dass die Bedürfnisse des Kindes gelesen und beachtet werden und dass auf sie eingegangen wird.
Die Grundbedürfnisse essen/trinken und schlafen gehören dazu, ebenso wie das Bedürfnis auszuscheiden (mit Windelfrei wird dem Baby geholfen, sich abseits vom eigenen Körper zu entleeren), Liebe und Nähe zu erhalten, zu kommunizieren, getragen zu werden und zu entdecken.
Die Mutter hatte das Baby 9 Monate im Bauch und verbringt die erste intensive Zeit mit ihm/ihr. Zusammen mit der Hormon-Hilfe fällt es der Mutter von allen oft am leichtesten, Babys Bedürfnisse zu erkennen und sie zu stillen. Dennoch ist sie nicht die einzige und je mehr die anderen Bezugspersonen in Kontakt mit dem Baby sind, umso besser lernen auch sie die Sprache deines Kindes und können mit ihm/ ihr kommunizieren.
Natürlich ist das Stillen etwas wunderbares und „Mutter-Sache“. Doch kann auch das Fläschchen liebevoll gegeben werden und die Mutter kann ihre Milch abpumpen. Auch eine Tagesmutter mit wenigen Kindern kann auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen. Gleichzeitig wird das Sozialverhalten im Kontakt mit den anderen Kindern ganz natürlich geschult. Die Kleinen lernen von den Großen und die Großen lernen mit den Kleinen.
Eine bedürfnisorientierte Tagesmutter wird dein Kind tragen, wenn es das braucht, und die Kinder liebevoll in den Schlaf begleiten. Sie kann sogar Windelfreiheit oder das Tragen von Stoffwindeln unterstützen. Und sie ist zum Trösten und zum Freuen da und kann dich als Mutter anrufen, wenn doch nur du, ja nur du gebraucht wirst.
Drei Jahre Mama-Bindung oder zu hoher Cortisol-Spiegel?
Wer die ersten Lebensjahre mit seinem Kind und ohne sonstige Betreuung verbringt, stützt sich möglicherweise auf die bekannte Bindungstheorie nach Bowlby. Dieser betont die negativen Auswirkungen, die ein unsicherer Bindungsaufbau zur Mutter in den ersten Lebensjahren für ein Kind hat. Kritiker merken allerdings an, dass die isolierte Betrachtung der Mutter-Kind-Bindung zu kurz gegriffen ist und dabei die Bindungen zu anderen Personen und die Eigenschaften des individuellen Kindes außer Acht gelassen würden. Zudem sei der Versuchsaufbau zur Einschätzung der Bindungsqualität nach Mary Ainsworth, die vielen verwandten Studien zugrunde liegt, heute umstritten und auch Studien, die sich auf den Cortisol-Spiegel stürzen, werden kritisiert.
Studien, wie die amerikanische NICHD-Studie wollen hingegen nachweisen, dass sich eine „Fremd“betreuung positiv auf die kognitiven Fähigkeiten auswirkt, – jedoch auch nur, bis die zu Hause betreuten Kinder dies im Schulalter wieder aufholen. Ist „Fremd“betreuung denn nun Segen oder Fluch?
Unumstritten ist sicher die Tatsache, dass stabile und zuverlässige, liebevolle Bindungen (zur Mutter und zu anderen Personen) in den ersten Lebensjahren den Grundstein für eine starke und gesunde psychische Entwicklung und für alle weiteren sozialen Bindungen des Kindes legen.
Alles eine Sache des Gefühls und der Qualität
Wenn du es also aus wissenschaftlicher Sicht sehen willst, kann ich es dir mit Julia Dibberns Worten („Geborgene Babys“, S. 15) sagen:
„Ich glaube, dass man mit dem Intellekt so ziemlich alles beweisen kann, was man beweisen möchte“.
Und so ist auch dies am Ende wieder eine Glaubensfrage (zu der wahre Glaubenskriege ausgefochten werden, die man leider in sämtlichen Foren verfolgen kann) und hängt von deinem ganz persönlichen Gefühl ab (schau auch hier im Artikel vom Gewünschtesten Wunschkind zu diesem Thema!).
Du weißt nicht genau, was dein Gefühl dir sagt? Hier ein paar Hilfen:
1. Achte auf eine kindgeleitete, für alle entspannte Eingewöhnung ohne Zeitdruck– plane viel Zeit ein, damit dein Kind sich und du dich mit der neuen Situation anfreunden könnt.
2. Nimm das Konzept der Kita/Tagesmutter und die betreuenden Personen genauestens unter die Lupe! Stimmt die Chemie, kann die Person auf dein Kind eingehen, kannst du gut mit den Betreuungspersonen? Nimmt die Person die Bedürfnisse der Kinder wahr und geht auf sie ein?
3. Achte auf einen guten Betreuungsschlüssel! Nur wenn die Betreuungsperson nicht überfordert ist, kann sie die Bedürfnisse deines Kindes auch wahrnehmen und auf sie eingehen.
4. Achte auf deine eigene Einstellung! Wenn dein Kind sieht, dass es dir mit der Situation schlecht geht, wird es auch ihm/ihr schlecht gehen. Also achte darauf, dass du dich mit der jeweiligen Situation wohl fühlen kannst! Und wenn du es nicht tust, hinterfrage auch dich selbst, warum.
5. Das Feeling in der Familie ist noch wichtiger als das Klima in der Kita: Also nehmt euch für den Morgen und die „Übergabe“ Zeit, unterhalte dich entspannt mit den BetreuerInnen bevor ihr wieder geht und nehmt euch Zeit für den Nachhause-Weg.
Kurz und knapp!
Hör‘ auf dich und dein Kind! Du merkst, was für dein Kind gut ist und dein Mutter-Instinkt wird dir ebenfalls zeigen, welcher Weg für euch gut ist. Lass dich durch Kommentare wie „Nach einem Jahr schon wieder arbeiten, warum schiebst du denn dein Kind so früh ab?“ und „Wie, du willst 3 Jahre lang nur Hausmutti sein?!“ nicht verunsichern!
Die Bindungsqualität hängt bei Kindern von vielen Faktoren ab. Alle negativen und positiven Auswirkungen von „Fremdbetreuung“ sind eher gering und vielmehr abhängig von der Qualität der Betreuung der Eltern und der Betreuungseinrichtung. Artgerecht ist sowieso ein Leben mit mehreren stabilen Bindungen und unter vielen Kindern – andere Kulturen machen es vor!
Wenn du ein paar Dinge beachtest und ansonsten nach deinem Gefühl gehst, kannst du nicht viel falsch machen. Achte darauf, wie dein Kind auf die Betreuung reagiert und darauf, dass ihr als Eltern untereinander und zum Kind eine gute Bindung habt, das ist der Grundpfeiler!
Bedürfnisorientiertes Zusammenleben ist kein exklusives Mama-Baby-Konzept, sondern eine Einstellung, die sich durch die Beziehungen mit allen Bezugspersonen zieht! Achte auf ein gutes Verhältnis zu deinem Kind und deinem Partner und auf eine bedürfnisorientierte Betreuung außerhalb des Hauses und dein Kind wird eine gestärkte und geborgene Kindheit erleben – so oder so!
… und was sagst du dazu?
Wie geht es dir damit, dass dein Kind „fremd“betreut wird oder hast du dich entschieden, mit deinem Kind länger „zu Hause“ zu bleiben? Oder stehst du gerade genau vor dieser Entscheidung? Teile deine Gedanken!
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