Was tun im Abhaltestreik?
Gerade gestern ist es passiert. Ganz deutlich habe ich es dieses Mal gesehen. Wir waren gerade dabei, Ringe auf einen Stab zu stecken – ganz neu, dass sie sie drauf setzt anstatt sie einfach nur abzuziehen, während ich einen nach dem anderen wieder raufstecke; genial, schon wieder eine neue Fähigkeit! Gerade war ich noch im Staunen, da beobachtete ich, was verbal ausgedrückt wohl so geklungen hätte: „ich kann das alleine!“ und „ich möchte dafür woanders hin, möchte damit allein sein“ und „ich entscheide jetzt, dass ich es tu und wo und wie ich es tu!“.
Abhaltestreik, hast du davon schon gehört?
Klingt irgendwie nach willentlichem Boykott, vielleicht sogar nach boshafter Verweigerung. Und es passiert so leicht, dass es einem genau so vorkommt, wenn das windelfreie Kind, vielleicht nachdem es bereits länger mit meiner Hilfe trocken ist, das Töpfchen meidet wie die Katz‘ das Wasser. Es ist nichts zu machen, beim Abhalten in der Hocke beugt sie sich durch, vom Töpfchen springt sie herunter wie von heißen Kohlen, nur um Sekunden später auf den Boden zu pinkeln. Und dann scheint es sie nicht einmal zu stören.
Ich gebe zu, auch ich habe mich mehrmals gefragt, was ich falsch gemacht habe. Ob sie doch nicht wirklich windelfrei ist, ob sie einfach keine Lust drauf hat und ich ihr ständig ein Backup umschnallen muss und ob demnächst gar nichts mehr ins Töpfchen geht. Und ganz schlimm waren die Fragen der Bekannten, wenn sie sahen, wie ein Pipi nach dem anderen in die Windel oder auf den Boden ging: Na, klappt windelfrei doch nicht? Und ich fragte mich: Hat mein Kind alles verlernt? Und wie lange kann das jetzt noch dauern?
Kein Fehler im System, sondern Teil des Prozesses
Um zu verstehen, was da passiert, schnell die Fachbücher ausgepackt und nachgeschlagen. Ich erinnere mich an einen Satz, den ich in einem Auszug aus dem Buch „go diaper free“ von der amerikanischen Windelfrei-Bloggerin Andera Olsen gelesen habe. Sie plädiert dafür, diese als solche wahrgenommenen Phasen voller Pfützen und bekackerten Windeln und Böden nicht als Scheitern der Ausscheidungskommunikation mit deinem Baby zu sehen, sondern sie als Teil des Prozesses, als normale Komponente wahrzunehmen. Sie sagt:
„Some also believe that baby is testing her own limits, and that ´potty pauses´ are just part of learning process. They are not necessarily a failure in EC, per se, but a sign that your baby is [healthily] becoming aware of her ability to hold it, let it go where she wishes, and decide whether or not to go at all… independence, ability, and decision-making in action!“ (S. 294)
Es ist also einfach ein weiterer, aber ganz besonderer Baustein in der Entwicklung deines Babys – neben eben auch der Fähigkeit ein Türmchen mit Ringen zu bestücken, anstatt sie nur abzuziehen. Letzteres ist natürlich nichts als eine kleine Freude für die beglückte Mutter, während eine Töpfchenpause die Nerven so mancher Eltern auf die Probe stellt.
Es fühlt sich manchmal an wie ein abgekartetes Spiel…
… wenn das Kind sich weigert aufs Töpfchen zu gehen, um kurz darauf auf den Boden zu machen. Kommt dir das bekannt vor? Genau, es ist die Zeit der neugewonnenen Autonomie. Das Kind schaut wieder einmal hinter den Horizont und wird mit einer Oase und Pracht neuer Fähigkeiten konfrontiert, die neue Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen bieten. Plötzlich kann ich entscheiden, und weiß, dass ich es kann. Ich kann meine eigene Meinung haben und diese zeigen und sie darf der von Mama und Papa entgegenstehen. Aus Erwachsenensicht ein Trotzverhalten, wenn gegen alle für uns vernünftigen Argumente willentlich verstoßend wird, nur um die eigene fixe Idee durchzusetzen. Aber ist das so?
Das Buch „Oje ich wachse!“ (Dr. Hetty van de Rijt – Dr. Frans X. Plooij) dokumentiert all jene Entwicklungsschritte unserer Kinder, die für sie die Welt auf den Kopf stellen. Was ab etwa dem 8. Monat passiert sind zwei wichtige Bausteine für die Entwicklung der Selbstbestimmung des Kindes:
- Zunächst lernt das Baby die Welt der Zusammenhänge kennen. Reihenfolgen werden ersichtlich und das Baby weiß nun, Dinge aufzubauen und einander zuzuordnen. Hieraus erwächst weiterhin folgende Möglichkeit:
„Jetzt, wo das Baby `Reihenfolgen` wahrnehmen und schaffen kann, hat es auch die Wahl, das Gegenteil zu tun, also eine Sache zu vermeiden“ (S. 239)
- Ab etwa dem 12. Bis 13. Lebensmonat folgt der nächste Sprung, der zum Erkennen und planen mit Programmen führt. Nun weiß das Baby um Handlungsabläufe und lernt diese zu unterstützen, flexibel zu verändern oder sie zu abzulehnen und zu verhindern. Es versteht, wenn Mama Wäsche wäscht, lernt, beim Fegen mitzuhelfen oder füttert die eigene Puppe und wenn es erkennt, dass Schlafenszeit ist, kann es versuchen, dem Ritual aus dem Weg zu gehen.
„Ihr Baby ´spielt´ mit den verschiedenen Wahlmöglichkeiten, die es an jedem Knotenpunkt hat. Es probiert aus. Es muss noch lernen, welche Folgen seine jeweilige Entscheidung an einem Knotenpunkt hat“ (S. 271)
Halten wir uns diese Fähigkeiten einmal vor Augen und wechseln wir das Wort „Trotz“ gegen „Autononmie“ und „Selbstbestimmung“, finden wir ein Kind, das sich nun selbst verorten lernt. Das seine Identität von der der Eltern trennt, das die Welt um sich herum und sich selbst noch ein wenig mehr zu analysieren gelernt hat, um ein eigenständig denkendes und handelndes Wesen zu werden. Auch Entscheidungen müssen geübt werden. Konsequenzen ausgetestet. Sonst bleiben sie nur leere Hülsen, die ein Kind nicht versteht.
Was bedeutet das für windelfrei?
Ein windelfreies Kind hat von Anfang an die Wahrnehmung von Blase beibehalten und die Kontrolle der Schließmuskeln trainiert, wodurch sich die Blase in ihrer Größe anpassen konnte. Nun ist es also möglich, sowohl willentlich auszuscheiden und loszulassen als auch einzuhalten. Die gewonnenen Fähigkeiten, Zusammenhänge kognitiv zu erfassen und Programme aktiv zu planen, zu vermeiden oder zu verändern ergänzen diese physischen Fähigkeiten und führen dazu, dass das Kind mit diesen neugewonnenen Möglichkeiten spielt, sie testet und trainiert.
Auch das Windeln Wechseln wird da zu einer Geduldsprobe für beide Seiten. Dem kann ein Kind sich nicht entziehen, man kann das Wickeln aber so gestalten, dass es weniger unangenehm ist und den Interessen des Kindes entgegenkommt, wie beim „friedlichen Wickeln“ (Link folgt). Gleiches gilt für das Abhalten, darum hier ein paar Praxistipps für dich:
Und was also tun, wenn gar nichts mehr geht?
- Geht denn wirklich GAR nichts mehr?
Oder ist das nur unser Eindruck? Oft klappt es noch gut in den Stansardsituationen wie direkt nach dem Aufwachen z.B.. Oder klappt windelfrei vielleicht nachts oder aber für das große Geschäft? Du kannst diese Situationen als Anker für dich und dein Kind beibehalten. Lass keinen Platz für Pessimismus sondern freu dich lieber über jedes aufgefangene Pipi.
- Bleib‘ dran und finde Kompromisse!
Auch wenn es meistens daneben geht, behalte bei, was immer noch klappt und bieten auch zwischendurch das Töpfchen an. Viele Pfützen und nassen Hosen stressen und demotivieren dich? Dann überleg‘ dir, welches Backup du nutzen möchtest. Oder du kommunizierst mit deinem Baby, dass du ihm teilweise eine Windel umbindest – allerdings sollte das nicht zum Abbruch der Kommunikation führen und deinem Kind nicht signalisieren, dass es nun einen Rückschritt macht und du das gemeinsame Projekt „aufgibst“.
- Kommuniziere weiter!
Kein Abhalten sollte nicht gleichbedeutend sein mit einem Abreißen der Kommunikation. Wenn dein Baby sich für Pipi auf dem Boden entschieden hat, dann fasse es in Worte und sag‘ ihm/ihr, wohin das Pipi eigentlich gehört. Wisch mit ihm auf, zeig ihm, wo das Pipi gelandet ist und sagt dem Pipi gemeinsam tschüß, wenn es doch im Klo oder Töpfchen gelandet ist.
- Sei kreativ!
Töpfchen ist out? Nun, vielleicht sucht dein Baby sich einen anderen Ort. Vielleicht bietest du ihm eine neue Position oder einen neuen Ort an. Vielleicht möchte dein Baby selbst mit dem Topf zu dir kommen. Vielleicht möchte es den Spielort aber auch gar nicht verlassen oder ein Spielzeug mit auf’s Klo nehmen. Hier ist deine Kreativität und Flexibilität gefragt
- Lass dich nicht stressen und hab Geduld!^
Dein Baby hat nach wie vor Kontrolle über seine Schließmuskeln. Wenn es anhält und erst pinkelt, wenn du ihm nicht mehr mit dem Topf hinterherrennst, ist die Kontrolle sogar schon sehr stabil, freu dich, alles richtig gemacht! Jetzt musst du dich nur noch in Geduld üben. Manchmal dauert es ein paar Tage, manchmal ein paar Wochen oder Monate. Irgendwann findet aber wieder Veränderung statt! Und dann lacht ihr gemeinsam über eure lustigsten Pannen und Pfützen.
Bahn frei für dein kompetentes Baby!
Was gestern passiert ist, ist eigentlich nichts Neues. Nur mein Blick darauf. Während unseres gemeinsamen Spiels schaute ich ihr in die Augen und ich sah auf einmal eine tiefe Entschlossenheit. Sie nahm einen Stift auf und warf ihn sogleich zurück auf den Boden, nahm ihn auf und warf ihn entschlossen wieder weg und drehte sich um. In dem Moment war mir klar, ihre Blase drückt. Sie krabbelte vom Teppich, ich hinterher. Ich versuchte sie aufs Töpfchen zu setzen, sie hüpfte sogleich runter. Ich legte ihr ein Mulltuch zwischen die Beine, sie krabbelte weiter. Während ich einerseits resignierend, aber andererseits voller Bewunderung auf dem Boden sitzen blieb und meine willensstarke Tochter beobachtete, zog sie sich zielstrebig am Regal hoch, schaute kurz glücklich in meine Richtung und pinkelte im hohe Strahl auf den Boden.
Und ich freue mich, denn mir ist jetzt klar, mein Kind hat nichts verlernt. Sie ist auch nicht nachlässig und überfordert. Ganz im Gegenteil. Sie ist auf dem Weg, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und ein windelfreies Kind unabhängig von mir und meiner Hilfe zu werden. Nun werden wir einen gemeinsamen Weg in ihre Selbstständigkeit finden. Bahn frei für mein kompetentes Baby!
Natürlich gibt es auch andere Situationen, die das Baby dazu veranlassen, das Abhalten zu meiden oder zu verweigern, z.B. wenn das Baby zahnt oder wenn sich etwas in Baby’s Leben verändert. Wie seid ihr damit umgegangen und wie lange haben die Abhaltepausen bei euren Babys angedauert? Schreibt es uns in die Kommentare!
Steckt ihr mitten im Abhaltestreik? Was ist für dich die größte Herausforderung? Und was sind die Tipps, die dir am meisten geholfen haben?
[…] Bei der 10. nassen Hose. […]
[…] Ist eine ganz besondere Art der Bindung, an der nicht nur dein Baby, sondern ganz besonders du wachsen wirst. […]
[…] womit „genervt“ und gedrängelt wird, das will man nicht mehr, das wird unattraktiv und kann alles zerstören. Also lautet die absolute Devise: Druck rausnehmen und nicht mehr mit dem Töpfchen […]
[…] unseren Breitengraden ist das hingegen oft der Beginn einer langen Phase, die wir als Abhalte-Streik wahrnehmen, denn die Interessen des Kindes und die der Eltern gehen hier […]
[…] Ich bin ein absoluter Fan der windelfreien Nacht – denn die klappt bei uns zuverlässig auch durch jeden Abhaltestreik hindurch, und das obwohl wir damit erst einige Monate nach der Geburt begannen! Seit das Löwchen etwa ein […]
[…] Phase aber meist übersehen (vor allem, wenn das Abhalten gerade so gut lief), mündet sie oft im klassischen sogenannten „Abhaltestreik“ (auch „Töpfchenstreik“ oder bei gewickelten Kindern auch „Wickelstreik“). […]
Hallo,
Wir sind genau in dieser Übergangsphase.
Unsere Tochter ist 14 Monate alt.
Seit nunmehr 2 Monaten mag sie nicht mehr abgehalten werden. Ich habe verstanden 🙂 und bin stolz auf sie. Jedoch will sie sich nie aufs Töpfchen setzen und die Hosen kann sie sich auch nicht runterziehen. Sie geht also immer in irgendwelche Ecken um zu Pullern oder auch ihr großes Geschäft zu erledigen. Ich weiß mir in beiden Punkten keinen Rat… abwarten? Gute Laune behalten? Auf den Sommer hoffen?
Abhalten klappt seit 2 Monaten nur auf dem Asiatöpfchen.
Ich freu mich auf eure Ideen!
Hi liebe Jule! Ja, was man konkret machen kann, das ist sehr individuell und ein sehr sensibles Thema, was man so allgemein im Blog nicht abklären kann. Es gibt da wichtige Herangehensweisen und Bausteine. Ich empfehle hier eine Beratung, die auf eure Situation und dein Kind gezielt eingeht und passt. Schreib mich doch mal per Mail an, dann kann ich schauen, was ihr braucht. Eines kann ich dir schon verraten: Dein Kind ist kurz davor selbstständig trocken zu werden 😉 Alles LIEBE! Janina
Hallo,
Danke für den tollen Artikel. Meine Tochter ist eigentlich noch zu jung für die Autonomiephase. Sie ist gerade 10,5 Monate. Allerdings lernt sie gerade laufen und zahnt. Sie war schon komplett kacka-sauber zwischen dem 5. Und 9. Monat. Jetzt ist es wie du beschreibst. Sie wehrt sich mit Händen und Füßen nur um dann direkt neben dem Töpfchen zu pinkeln oder 2 min. nachdem die Windel wieder angezogen ist Kacka zu machen. Wir hatten immer Spaß auf dem Töpfchen singen, spielen etc. Ich werde das mit dem neuen Ort oder anderes Töpfchenmal versuchen. Hast du sonst noch tipps für mich? Oder eine Erklärung?
Vielen Dank für die Hilfe!
Hi Nina! Mit 10,5 Monaten beginnt die Autonomiereise bereits 🙂 Man könnte sagen, ab Mobilität beginnen die Kleinen sich abzunabeln und enorm nach Selbstständigkeit zu streben. Das zu begleiten, ist gar nicht so leicht. Mein Tipp: Stell dich auf dieses neue Baby ein, es ist kein Säugling mehr und alles, was bis jetzt gut funktionierte, wird sich transformieren und das ist gut und richtig so. Du behältst dabei immer die Verantwortung für den Rahmen, die Führung, aber es braucht immer mehr Möglichkeiten innerhalb dessen zur Selbstständigkeit. Ich empfehle auch ein Bodentöpfchen ab Mobilität. Ansonsten schreib mir gerne mal eine Mail, da es sehr vom Entwicklungsstand des Kindes, dir selbst und eurem Alltag und Umgebung abhängt, wie man damit jetzt am besten umgehen kann, da bietet sich tatsächlich eine Beratung an, allgemeine Tipps kann man nur begrenzt geben. Viele liebe Grüße und von Herzen gerne! Janina